Angst als Gefühl
Angst ist eines der grundlegendsten Gefühle der Menschen, und doch lehnen wir sie ab, verdrängen sie am liebsten (und erfolgreichsten) und wollen sie loswerden.
Angst ist entwicklungsgeschichtlich eines der ältesten Gefühle und hat uns als Menschen das Überleben gesichert. Ohne die nützlichen Funktionen der Angst wäre der Mensch heute nicht dort, wo er ist. Unsere frühen Vorfahren hat sie vor Gefahren und Bedrohungen geschützt und damit das Überleben gesichert. Der Körper mobilisiert bei potenzieller Gefahr sofort und automatisch Kräfte und erhöht die Aufmerksamkeit. Es wird Energie freigesetzt um fliehen oder notfalls kämpfen zu können. Im Körper läuft ein Notfallprogramm ab, um kritische Phasen zu überstehen.
Kampf
Auch heute noch läuft dieses Notfallprogramm automatisch ab in Situationen, die unser Körper als Gefahr wahrnimmt. Es gibt drei Haupthandlungsstränge, die aktiviert werden können. Die erste Möglichkeit ist das Kämpfen. Viele Menschen verfallen auch in der heutigen Zeit ständig ins Kämpfen, wittern überall Gefahr, schlagen wild um sich, gehen in den Angriff. Der Kampf-Modus mobilisiert Kräfte. Das kann sich auch sehr schön anfühlen, da Power da ist, man viel schafft ohne Pause und müde zu werden. Workaholic oder Power-Frauen sind ein Beispiel dafür.
Flucht
Die zweite Möglichkeit besteht darin zu fliehen. Bedrohlichen Situationen aus dem Weg zu gehen ist genauso sinnvoll und notwendig zur Bewältigung gefährlicher Situationen. Aber auch hier kann sich die Fluchtreaktion verselbständigen, so dass Menschen gar nicht mehr in potenziell angstmachende Situationen gehen und anfangen zu vermeiden, sich einzuschränken und einzuengen.
Verstecken
Die dritte Möglichkeit ist das Verstecken. So wie es früher Sinn gemacht hat, sich vor gefährlichen Tieren zu verstecken, hat es beispielsweise auch Sinn gemacht sich als Kind vor den alkoholisierten oder gewalttätigen Eltern zu verstecken. Jedoch kann auch diese Strategie im Erwachsenenalter zur dominanten Strategie werden und es wird sich versteckt, verkrochen, unsichtbar gemacht und erstarrt.
Verwandlung und Handlung
Die drei Handlungswege Kämpfen, Fliehen, Sichverstecken werden aus der Angst geboren, um bedrohliche Situationen zu bewältigen. Wenn aus der Angst eine Handlung entsteht, dann verwandelt sie sich. Im Kampf-Modus entsteht vielleicht Zorn und Wut. Im Flucht-Modus entsteht vielleicht Panik, Furcht und Schutzbedürftigkeit. Der Sichverstecken-Modus kann zur Erstarrung, zum Einfrieren führen, zum Gefühl der Gefühlslosigkeit. Das Gefühl der Angst wandelt sich in ein anderes Gefühl. Im Idealfall gibt es eine Bedrohung als konkreten Auslöser, Angst als Initialgefühl, das mobilisiert und in eine Handlung mündet. Angst tritt als kurzes Gefühl auf, führt zur Handlung und verwandelt sich in ein anderes Gefühl.
Der Körper
Bei Angst im Kampf- oder Flucht-Modus ist der Sympatikus mobilisiert. Das Herz schlägt beschleunigt, Blut zieht sich aus dem Gesicht (bleich werden) und anderen äußeren Bereichen des Körpers zurück (um bei Verletzungen der Haut nicht so viel Blut zu verlieren) und fließt in die Arme und Beine (um kämpfen oder fliehen zu können). Die Pupillen weiten sich (erhöhte Aufmerksamkeit), Adrenalin fließt durch den Körper (gibt Power, lässt Schmerz weniger spüren). Das Stammhirn (entwicklungsgeschichtlich der älteste Teil des Gehirns) übernimmt die Regie und sucht fieberhaft nach Lösungen. Dabei wird auf altbewährtes zurückgegriffen. Ist eine Lösung gefunden, geht der Stress zurück, die Angst löst sich auf, der Körper kehrt in einen entspannten Normal-Modus zurück. Für unsere Vorwahren waren Ängste meist verbunden mit sehr konkreten Situationen, die kamen akut und gingen schnell wieder vorbei. Heute sind sie meist diffus und dauern längere Zeit an (Stress auf der Arbeit, die Gefahr der Kündigung, Beziehungskrise, etc.). Die Angst-Symptome verschwinden nicht mehr vollständig aus dem Körper. Der Körper findet nicht mehr zu einer entspannten, ausgeglichenen Balance zurück.
Einige Aspekte von dauerhafter Angst
Dauerhafte Angst macht eng
Wenn wir uns die Angst auf der körperlichen Ebene anschauen, ist sie oft mit Enge verbunden. Sie schnürt den Hals zu, sorgt für flache Atmung, Druck auf der Brust oder im Bauch.
Dauerhafte Angst verdeckt andere Gefühle
Wenn Angst in Handlung mündet, macht sie anderen Gefühlen Platz. Ist es geschafft, kommt Erleichterung, vielleicht sogar Freude und Stolz hoch. Wird Angst und Stress dagegen nicht gelöst, wird mit der Enge des Erlebens auch der Platz für andere Gefühle eng. Sie legt sich über die Liebe genauso wie über Trauer, Wut, etc. Sie legt sich wie ein bleierner Panzer über alle anderen Gefühle und engt ein und lähmt, sie verhindert Kontakt zu anderen – wie auch zu sich.
Dauerhafte Angst pusht Erregung
Angst mobilisiert Kräfte, das Erregungsniveau steigt. Das kann sich gut anfühlen, weil viel Energie da ist. Es kann jedoch auch dazu führen, nicht mehr abschalten zu können, abends nicht mehr runter fahren zu können und sich die nötige Erholung zu besorgen. Der Körper steht ständig unter Strom, das Herz rast, die Atmung ist flach, die Tätigkeit der Verdauungsorgane ist runter gefahren, die Muskeln sind angespannt. Auf Dauer kann das zu gesundheitlichen Problemen führen (Herz-, Atemwegs-, Magen-Darmerkrankungen, „Rücken“, Migräneattacken, Bluthochdruck, etc.).
Dauerhafte Angst macht stumm und taub
Wenn Angst dauerhaft wird, wird sie unerträglich und der Mensch versucht sie zu betäuben, abzutöten. In der Beziehung wird sich beispielsweise zurückgezogen (eine_r will reden, die_der andere zieht sich zurück, schweigt, macht dicht). Es wird zu Alkohol gegriffen (am Anfang löst er vielleicht noch die Angst, dann macht er nur noch stumm und taub), am PC zocken oder auf die Arbeit geflüchtet.
Dauerhafte Angst macht bissig
Die dauerhaft hohe Erregung führt zu Dauerangriffen. Manche Menschen haben gelernt, dass Angriff die beste Verteidigung ist. Sie greifen dauernd an, bewegen sich damit in ihrem bekannten Muster und brauchen die Angst, das Elend, die Not dahinter nicht zu spüren. Sie halten sich ihre Gefühle und andere Menschen auf Abstand.
Dauerhafte Angst macht Einsam
Wir Menschen brauchen wechselseitigen Austausch mit anderen, um uns zu spüren und entwickeln zu können. Angst führt zur Einengung, zum Rückzug, macht taub und stumm. Die Barriere zu Anderen wird immer höher. Es setzt eine Kettenreaktion in Gang aus Rückzug und damit reduzierter Kontakt, es wird alles fremder und unvertrauter, was wiederum Angst macht. Wie jedes Gefühl hat auch Angst eine soziale Komponente. Jedes Gefühl beeinflusst das soziale Umfeld. Wenn Menschen sehr ängstlich sind, lassen sie andere oft nicht nah an sich heran. Und das Umfeld ist oft hilflos und weiß nicht damit umzugehen.
Scheinlösungen
Dauerhafte Angst wird zur dauerhaften Belastung. Deswegen wird versucht sie loszuwerden, über Kontrolle sie zu bezwingen, sie mit Alkohol, Arbeit, Drogen usw. zu betäuben und zu verdrängen. Es wird das Gefühl der Angst bekämpft (die Angst vor der Angst), nicht jedoch ihr Grund. Der Preis ist hohe und permanente Anstrengung und das Abtöten anderer Gefühle
Angst braucht keinen Grund, findet aber einen Anlass
Angst braucht keinen Grund, und verschwindet auch nicht, wenn man auf fehlende Begründung verweist. Angst hat jedoch immer irgendwo eine Quelle. Aus der quellt sie hervor, egal ob begründet oder unbegründet. Sie findet ihre Anlässe. Unser Körper scannt permanent uns und unsere Umgebung nach potenziell bedrohlichen Ereignissen ab. Das läuft viel über die Sinnesorgane. Deswegen kann ein Geräusch oder ein Geruch genauso wie etwas (unbewusst) sehen ein Auslöser sein. Über die Auslöser lässt sich manchmal der Weg zurück zur Quelle finden. Denn es gibt oft ähnliche Erlebnisstrukturen.
Die verschiedenen Angst-Formen: „während“, „davor“ und „danach“
Die „Während-Angst“ passiert IN einer konkreten bedrohlichen Situation. Es gibt akut eine Gefahr und der Körper reagiert prompt darauf.
Die „Davor-Angst“ kommt vor einem Ereignis – was wegen dieser Angst meist auch gar nicht stattfindet. Die Angst davor, eine attraktive Person anzusprechen. Die Angst vor dem Gespräch mit der Chefin. Die Angst davor ein klärendes Gespräch in der Beziehung zu führen. Und so weiter. In der konkreten Situation ist es meist gar nicht so schlimm, denn der Körper mobilisiert die nötigen Kräfte. Die „Angst-davor“ hat den Vorteil, dass wir uns auf etwas vorbereiten können (das Gespräch, den Auftritt, etc.). Sie kann jedoch auch lähmend wirken, wir vermeiden, umschiffen, tun alles Mögliche, in der Hoffnung der Angst ein Schnippchen zu schlagen – und merken gar nicht, dass die Angst uns fest im Griff hat.
Die „Danach-Angst“ tritt nach einem Ereignis auf. In der Situation meistert unser Körper noch alles, erst danach merken wir, wie schrecklich und bedrohlich es gerade war. Erst jetzt merken wir unsere weichen Knie und wie wild unser Herz schlägt. Der Vorteil ist, dass wir die Situation nachbereiten können, um das nächste Mal besser gewappnet zu sein. Wenn die „Danach-Angst“ nicht verarbeitet wurde, kann es sein, dass sie plötzlich in ähnlichen Situationen oder Orten wieder auftritt, obwohl es dieses Mal an sich keine Gefahr gibt. Dies kann dazu führen, dass wir solche Situationen, Begegnungen, Orte zukünftig meiden und uns damit auch der Möglichkeiten berauben. Wir engen uns ein.
Die delegierte Angst
Manche Menschen leiden unter diffusen Ängsten und Stimmungen, haben Albträume über Ereignisse, die sie nie erlebt haben. Hier kann es sein, dass die Eltern etwas Schreckliches erlebt haben, dass sie nie richtig aufgearbeitet haben und das nun als Familienatmosphäre weiter lebt und auf ihre Kinder übertragen wird. In den letzten 100 Jahren (= drei Generationen) gab es zwei Weltkriege in und von Deutschland ausgehend. Sehr viele haben schreckliches erlebt, als Täter_innen oder als Opfer (oder beides). Das wenigste davon wurde aktiv aufgearbeitet (bzw. beginnt erst seit ein paar Jahren). Hier kann es sich lohnen, einen Blick in die Familiengeschichte zu werfen und die Eltern und Großeltern (sofern sie noch leben) und ggf. andere Verwandte zu befragen.
Die existenzielle Angst
Wir Menschen sind sterblich und Leben nur eine gewisse Zeit lang. Und doch ist Sterben und der Tod in unserer Gesellschaft nahezu ausgeblendet, unsichtbar, kein Thema. Plötzliche Unfälle, chronische Krankheiten und schwere Erkrankungen passieren immer nur den anderen. Und doch können sie als Bedrohung mitschwingen und Angst machen. Oder es gab ein solches Ereignis bereits im eigenen Leben und nun ist die Leichtigkeit verloren gegangen. Eine weitere Form ist, wenn wir als Kind nicht erwünscht, nicht gewollt waren (ein Schwangerschaftsabbruch war nicht möglich; wegen dir konnte ich keine Karriere machen/musste ihn heiraten…)
Angst vor Veränderung
Wir haben Angst, dass das erhoffte Ereignis stattfindet – ebenso wie, dass es nicht stattfindet. Wir müssen uns jeden Tag entscheiden. Eine Entscheidung für etwas ist auch immer eine Entscheidung gegen etwas. Je älter wir werden, desto mehr ungelebte Möglichkeiten gibt es, die oft auch für immer unwiderruflich sind (ich werde nicht mehr Millionär_in, Star, die Weltreise machen…). Neben den vielen kleinen Entscheidungen und Herausforderungen (welches Kleid ziehe ich an, wie wird das Treffen, schmeckt das Essen, wie wird der Urlaub, …) stehen auch immer wieder (kleine) Veränderungen an. Jedoch liebt der Mensch in der Regel seine Gewohnheiten, denn sie geben ihm Sicherheit, sind vertraut – selbst wenn es problematische, ungesunde Verhaltensweisen sind. Veränderung und Neues macht Angst. Manche Veränderungen hinterfragen auch die eigene Identität oder Rolle (bei Berufswechsel, in der Elternschaft).
Ich begleite Sie durch Ihre Ängste
Wenn Sie sich Ihrer Angst stellen wollen, unterstütze ich Sie gerne bei dieser spannenden und beängstigenden Reise, damit Sie entdecken können, welche anderen Gefühle es noch gibt und welche neuen Handlungsmöglichkeiten sich für Sie ergeben können.