Einen Umgang mit der Scham finden
Die Scham ist ein weiteres Gefühl, das uns oft begegnet, dessen wir uns häufig nur halbbewusst sind, und dass wir am liebsten nicht hätten. Wir schämen uns für unsere Scham. Sie tritt oft diffus, schwer benennbar und schwer greifbar auf. Viele kennen es als komisches Gefühl, merken, dass ihnen heiß wird (rot werden vor Scham), dass sie am liebsten (im Boden) verschwinden würden. Die Scham tritt auf, wenn wir uns oder Aspekte von uns öffentlich zeigen. Wobei die Öffentlichkeit real vorhanden sein kann oder nur als Vorstellung in uns. Das, was wir in dem Moment zeigen, ist nichts Belangloses, sondern etwas sehr Bedeutsames, Intimes, Privates. Und wenn wir uns so zeigen, brauchen wir die Sicherheit, dass es in Ordnung ist, dass wir in Ordnung sind, dass wir nicht verletzt werden, wenn wir uns so offen und schutzlos zeigen. Die Scham tritt als Beschützerin auf. Sie achtet auf unsere ganz privaten Grenzen, auf unseren persönlichen und intimen Raum. Beispielsweise können Berührungen des Körpers kostbare Nähe, Verschmelzung, Sinnlichkeit und Glück, aber auch Verletzungen, Missachtung und Gewalt bedeuten. Wer uns berühren darf, und wer nicht, dass ist unsere Entscheidung. Und es gibt ein Gefühl, dass uns auf die anstehende Entscheidung hinweist: die Scham. Die Scham ist die Wächterin unseres intimen Raumes. Wo genau die Grenzen liegen, wann und wie intensiv die Scham auftritt, ist individuell verschieden und kann sich auch immer wieder verschieben, von Situation zu Situation und im Laufe des Lebens. Neben der Scham, die aufpasst und behütet, gibt es oft noch gegenteilige Gefühle, die Sehnsucht nach aufmachen, sich öffnen, um Nähe, Berührung, sexuelle Begegnungen möglich werden zu lassen. Auf der anderen Seite fürchten und ängstigen wir uns, und unser Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit wächst. Das kann so weit gehen, dass wir uns lieber zurückziehen, verschließen, Nähe und Intimität vermeiden, der Schutz und die Sicherheit höher gestellt sind. Dafür geht dann Nähe und Geborgenheit verloren. Aus der Scham entstehen Handlungen (uns zurückziehen, verschließen). Die Scham an sich weist uns als Gefühl jedoch nur auf etwas hin.
Scham empfinden wir als unangenehm. Und dabei weist sie uns nur auf etwas hin: unsere ganz persönliche Grenze
Wenn die Scham nicht situationsgebunden auftritt und kurzlebig ist, sondern scheinbar beliebig, oft und andauernd im Kontakt mit anderen Menschen auftritt, dann wurden sehr wahrscheinlich die Grenzen des intimen Raumes massiv verletzt und/oder es hat massive Beschämung stattgefunden. Dann treten Schuldgefühle, Scham und Unsicherheit immer wieder auf. Beschämungen und andere Verletzungen des intimen Raumes wie Gewalt und Übergriffserfahrungen in all ihren unterschiedlichen Ausprägungen können ein solch dauerhaftes Gefühl drohender Gefahr hervorrufen, dass die Scham als unablässig aktive Wächterin auf den Plan gerufen ist, also sich so verselbständigt hat, dass jede Öffentlichkeit als potenziell verletzend bewertet wird.
Wird Menschen die Möglichkeit genommen, ihre Intimität zu verteidigen, sei es durch sexuelle Gewalt und andere Verletzungen des Körpers und des Geistes oder durch andauernde Beschämungen, dann kann die Scham die Funktion nicht mehr erfülle; manche Menschen werden schamlos, andere schämen sich vieler ihrer Lebensäußerungen. Und leider schämt sich das Opfer und nicht der Täter, auch wenn der Verstand sagt, dass es nicht so sein sollte. Aber Gefühle habe eine eigene Logik.
Beschämt werden kommt von außen. Andere Menschen verletzen die beschämte Person, missachten die Grenzen des Intimen Raumes. Sie erzeugen Not, da Schützenswertes nicht geschützt werden kann. Beschämt werden trifft unser Innerstes,fühlt sich bedrohlich an und macht uns hilflos.
Eine weitere Form der Scham ist die existenzielle Scham. Sie kommt in der Regel diffus daher und ist oft situationsunabhängig, dafür langanhaltend, oft ein Leben lang. Ein Gefühl von „ich stimme nicht“, „ich bin nicht richtig“, „ich gehöre nicht dazu“. Es geht nicht um bestimmte, einzelne Handlungen, sondern um die eigene Existenz, die in Frage gestellt, brüchig, unsicher ist. Meist gibt es einen Zusammenhang zwischen der existenziellen Scham und einem (wie auch immer) abgesprochenem Existenzrecht, dass von Seiten der Eltern/eines Elternteils von Beginn an da war (weil das Kind nicht [zu der Zeit, in dem Kontext, etc.] sein sollte). Diese Form der Beschämung ist nur schwer auszuhalten und wird deswegen oft gegen andere Gefühle oder „Lösungen“ ausgetauscht, wie z.B. Depression, Angststörungen, Alkohol- und Drogensucht, Essattacken, Arbeitssucht, massive Selbstabwertung.
Auch wenn wir Scham als unangenehm erleben und gerne los werden, nicht spüren wollen, lohnt es sich ihr Raum zu geben, sie auszuhalten und zu erkunden, was sie körperlich mit uns macht. Ebenfalls lohnt sich der Blick in die Vergangenheit: welche Geschichte hat die Scham? Welche Funktion hatte sie einmal? Denn, wenn wir uns ihr stellen können wir entdecken, was zu uns gehört und uns helfen kann, und was nicht zu uns gehört, von Außen kam. Und wenn wir dem noch eine Handvoll eigener Ressourcen zur Seite stellen, können sich ganz neue Erlebensweisen etablieren, in der die Scham uns als Hüterin unserer eigenen Grenzen unterstützt und Hilfreich zur Seite steht und wir der Beschämung (der Scham von Außen) etwas entgegen setzen können.
Ich begleite Sie gerne, wenn Sie die verschiedenen Qualitäten Ihrer Scham genauer erkunden wollen. Sprechen Sie mich gerne an.